Karl Anton Weiss (später Charles Anthony Wills)
- Geb. am} 5.0.1919
- Geburtsort: Wien
- Kategorie: Diplomstudiengang
- Heimatberechtigung: Wien (Wien), Österreich
- Staatsbürgerschaft: Österreich
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Karl (auch Carl) Anton Weiss kam am 5. Januar 1919 in der 1906 gegründeten Frauenheilanstalt des Sanatoriums des jüdischen Arztes Dr. Anton Loew in der Pelikangasse 15 (9. Wiener Gemeindebezirk) auf die Welt. Er war der Sohn von Richard Karl (auch Carl) Weiss (geb. 16. Februar 1878 in Wien als Sohn des Abraham und der Rosalie Weiss, geborene Bauer) und dessen Gattin Gisela Valerie Weiss (geb. 20. Juli 1891 in Wien als Tochter des aus Páleč/Groß Paletsch stammenden Kaufmanns und Fabrikdirektors Gustav Propper und der Elisabeth bzw. Elise, Mädchenname Fanta). Die Eltern hatten sich am 14. Februar 1918 in der Lutherischen Stadtkirche (Dorotheergasse 18, 1. Wiener Gemeindebezirk) das Ja-Wort gegeben. In derselben Kirche wurde Karl Anton am 20. Januar 1919 nach dem evangelischen Augsburger Bekenntnis getauft. Der Vater war Finanzdirektor bei der Neuen Freien Presse, der bis zum ‚Anschluss‘ Österreichs an das ‚Dritte Reich‘ (März 1938) führenden liberal-bürgerlichen Tageszeitung in Österreich.
Nach dem Besuch des Realgymnasiums im 4. Wiener Gemeindebezirk leistete Karl Anton ab 1. September 1936 in der Erzherzog-Wilhelm-Kaserne, die unweit des heutigen WU-Campus᾽ gelegen war, Militärdienst als Offiziersanwärter bei der berittenen Artillerie. Nachdem er seinen Dienst als sogenannter Einjährig-Freiwilliger beendet hatte, inskribierte er an der Wiener Hochschule für Welthandel, um sich zum Diplomkaufmann ausbilden zu lassen. Hier nahm er im Wintersemester 1937/38 und Sommersemester 1938 an den Lehrveranstaltungen des sechssemestrigen Diplomstudiengangs teil.
Nach dem ‚Anschluss‘ jedoch musste Karl Anton Weiss das Studium vor dem Hintergrund der rassistischen Verfolgung des NS-Regimes ohne Abschluss abbrechen. Obwohl seine Eltern 1913 bzw. 1917 vom jüdischen zum evangelischen Glauben gewechselt waren, wurde die Familie von den Nationalsozialisten im Sinne des Reichsbürgergesetzes von 1935 als „jüdisch“ angesehen. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass Karl Antons Vater entsprechend einer Verordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring, und des Reichsinnenministers Wilhelm Frick vom 26. April 1938 sein Vermögen offenlegen musste. Dem NS-Regime dienten die Vermögensanmeldungen dazu, sich das Eigentum der Jüdinnen und Juden auf scheinlegale Weise anzueignen.
Schließlich wurden die Eltern Opfer der Shoah. Zunächst mussten Richard und Gisela Weiss Anfang Dezember 1940 die Wohnung in der Paulanergasse 9/19 (4. Wiener Gemeindebezirk) verlassen, in der sie seit August 1918 gemeldet waren. Für einige Zeit waren sie in der Gärtnergasse 8/9 (3. Bezirk) gemeldet, wurden aber am 12. Mai 1942 zusammen mit 999 anderen Opfern nationalsozialistischer Verfolgung von einer Sammelwohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk aus in das südöstlich von Lublin gelegene Ghetto Izbica deportiert (Hecht/Raggam-Blech/Uhl 2019, S. 251). Einige Quellen geben als letzte Wohnadresse in Wien die Zirkusgasse 3 an, einer handschriftlichen Notiz im Nachlass von Karl Anton zufolge, die diesem wahrscheinlich über die Hausgehilfin seiner Eltern, Rosina Steurer, zugeschickt worden war, wurden Richard und Gisala aber von hier aus am 9. Mai in die Kleine Sperlgasse 2a verlegt; von diesem Gebäude aus, das vor dem ‚Anschluss‘ eine städtische Schule gewesen war, von den Nationalsozialisten aber als einer der zentralen Ausgangspunkte für Deportationen in die osteuropäischen Konzentrationslager in eine Sammelwohnung umfunktioniert wurde (Hecht/Raggam-Blech/Uhl 2019, S. 239-241), wurden die Eltern von Karl Anton dann am Mittag des 12. Mai 1942 in Lastkraftwagen verfrachtet, die sie zum Wiener Aspangbahnhof brachten. Per Zug ging es dann unter unmenschlichen Bedingungen weiter nach Izbica. Hier kamen Richard und Gisela Weiss zu einem unbekannten Zeitpunkt ums Leben.
Auch Giselas Mutter Elise (geb. 26. Februar 1864) kam im Holocaust ums Leben. Während ihr Mann Gustav Propper bereits am 10. Oktober 1936 gestorben war und das nationalsozialistische Regime nicht mehr erlebte, wurde sie am 28. Oktober 1941 von ihrer Wohnung in der Wiener Skodagasse 9 (8. Bezirk) aus ins Ghetto von Łódź deportiert. Hier wurde die 78-Jährige am 15. April 1942 von den Nationalsozialisten ermordet.
Karl Anton hingegen gelang es, zu emigrieren. Wie sein Meldungsbuch eindrucksvoll belegt, hatte er schon an der Hochschule für Welthandel beobachten müssen, dass etliche Lehrveranstaltungen von Professoren, die aufgrund ihrer Nähe zum Austrofaschismus von den Nationalsozialisten als Gegner wahrgenommen und nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs zunächst vom Dienst suspendiert, dann entlassen worden waren, im Laufe des Sommersemesters 1938 gestrichen oder durch regimekonforme Dozenten übernommen wurden. Ihm war bewusst, dass auch sein Leben im ‚Großdeutschen Reich‘, wie das Deutsche Reich sich seit dem ‚Anschluss‘ nannte, in Gefahr war. Nach mehreren Versuchen, Deutschland zu verlassen, gelangte er am 16. Juni 1939 mit nicht mehr als einem kleinen Koffer und den Kleidungsstücken, die er am Körper trug, nach Schweden. Dank der Vermittlung durch die Schwedische Israelmission (Svenska Israelmissionen) in Stockholm, die seit den zwanziger Jahren auch eine Niederlassung in der Wiener Seegasse 16 unterhielt und zwischen 1938 und 1941 ca. 3.000 Jüdinnen und Juden sowie Christen und Christinnen mit jüdischem familiärem Hintergrund die Emigration ins neutrale Schweden ermöglichte (Litzka 2018, S. 105), erhielt Weiss eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis, die mehrmals verlängert wurde. Die staatliche Sozialbehörde verknüpfte ihre Genehmigung mit der Vorgabe, dass Weiss und andere aus Deutschland geflohene Männer sich auf „die Auswanderung in ein anderes Land“ vorbereiteten (Riksarkivet). Bis dahin arbeitete Weiss auf einem Bauernhof im südschwedischen Sanåkra bei Sösdala. Hier erfuhr er eine landwirtschaftliche Ausbildung, auch wenn er als Elektrotechniker registriert war.
Ob Karl Anton Weiss noch, wie im Dezember 1939 vorgesehen, in das Flüchtlingslager der Schwedischen Israelmission in Tostarp übersiedelt ist, ist nicht bekannt. Er drängte darauf, sich am bewaffneten Kampf gegen den NS-Staat zu beteiligen. Zu diesem Zweck reiste er über Kopenhagen nach Großbritannien, das im Gegensatz zum neutralen Schweden auf Seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg gegen das ‚Großdeutsche Reich‘ kämpfte. Hier schloss sich Karl Anton Weiss der britischen Armee an. Wie sein Sohn Richard bezeugt, wurde er in Europa sowie im Mittleren Osten eingesetzt. Zunächst gehörte er ab Mai 1940 dem Pioneer Corps an, ehe er seinen Dienst bei den Royal Electrical and Mechanical Engineers versah, jener Einheit, die ab Oktober 1942 für Pflege und Reparatur der militärischen Ausrüstung verantwortlich war. Außerdem diente der ehemalige Student der ‚Welthandel‘ beim Geheimdienst der britischen Armee, dem Intelligence Corps. Wohl im September 1946 verließ er die britische Armee (E-Mails Richard Wills vom 7. Februar und 26. März 2024).
Im britischen Exil anglisierte Karl Anton Weiss seinen Namen in Charles Anthony Wills. Bei der Namenswahl wollte er nach Angaben seines Sohnes einen Namen „that sounded very English“ (E-Mail vom 7. Februar 2024), für den Nachnamen orientierte er sich an der populären britischen Zigarettenfirma W.D. & H.O. Wills. Im Frühjahr 1947 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft (The National Archives: Naturalisation Certificate Charles Anthony Wills).
Seinen Lebensunterhalt verdiente sich Charles Anthony als Vertriebsleiter eines Kunststoffunternehmens. Außerdem war er ein talentierter Amateurmaler, insbesondere auf dem Gebiet der Porträtkunst. In erster Ehe heiratete er am 11. März 1946 Mildred Ruth Bailey (geb. 4. Dezember 1920, gest. 2. April 2021). Aus der Ehe sind Angela Gregory (geb. 1949) und der bereits genannte Richard Wills (geb. 1951) hervorgegangen, die Familie lebte im Londoner Stadtteil Sutton. 1976 ließen sich Charles Anthony und Mildred Ruth scheiden. Im letzten Quartal desselben Jahres ehelichte Charles Anthony im Londoner Stadtteil Bromley Christine P. Boynes, am 3. März 1982 schloss er die dritte Ehe mit Margaret Bateman (geb. 17. August 1933). Mit ihr zog er im Jahr 2000 nach Wales.
Ungeachtet der schmerzhaften Erfahrungen, die für ihn mit Österreich verbunden waren, ist Charles Anthony Wills in der Nachkriegszeit einige Male in dieses Land gereist. Seine letzte Reise führte ihn 2005 zur Feier des 100. Geburtstags seiner Tante Leopoldine Propper (10. April 1905 bis 3. Januar 2009, genannt Poldi, Mädchenname Kaufmann) nach Wien, die mit dem bekannten evangelischen Theologen jüdischer Herkunft Felix Propper (1. März 1894 bis 24. November 1962) verheiratet gewesen war. Am 1. Februar 1939 war es dem Ehepaar gelungen, ihre drei Kinder Gerold, Gerta und Gertrud – ebenfalls mit Hilfe der Schwedischen Israelmission – mit 62 weiteren Kindern aus Österreich nach Schweden in Sicherheit zu bringen (Pammer 2012, S. 66 f.). Just am Tag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs (1. September 1939) gelangte auch Leopoldine nach Schweden. Ihre Hoffnung, zusammen mit Felix und ihren Kindern in die USA zu emigrieren, wurde durch den Krieg und die zeitweilige Interierung ihres Mannes in Frankreich verunmöglicht. Nach Kriegsende traf sich die Familie im befreiten Wien wieder.
Ins Exil schaffte es auch Karl Antons Onkel Ernst Hans Propper (geb. 19. November 1885 in Prag). Während dessen Schwester Gisela und ihre Mutter Elise – wie oben berichtet – durch das nationalsozialistische Regime im Generalgouvernement umgebracht wurde, vermochte er es, sich 1939 im Vereinigten Königreich in Sicherheit zu bringen. Er ließ sich in Nottingham nieder, wo er am 19. Januar 1973 starb und eine Woche später eingeäschert wurde. Ob Karl Anton Weiss mit Ernst Propper ungeachtet des gemeinsamen Exillandes Großbritannien Kontakt hatten, ist unsicher; seinem Sohn Richard gegenüber hat er Ernst Propper jedenfalls nie erwähnt.
Karl Anton Weiss respektive Charles Anthony Wills ist am 7. Februar 2007 im walisischen Pembrokeshire im Alter von 88 Jahren gestorben.
Autor: Johannes Koll
Bilder
Quellenhinweise
Wirtschaftsuniversität Wien, Universitätsarchiv, Studierendenkarteikarte und Meldungsbuch.
E-Mail-Verkehr zwischen Richard Wills und PD Dr. Johannes Koll (WU Wien) zwischen Februar und April 2024.
Tauf-Buch der Lutherischen Stadtkirche Wien 1919, Bl. 136 zu Karl Anton Weiss, hier nach Matricula online, https://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien-evang-dioezese-AB/wien-innere-stadt-lutherische-stadtkirche/TFB76/?pg=140 [7. März 2024].
Trauungs-Buch der Lutherischen Stadtkirche Wien 1918, Bl. 11, hier nach Matricula online, https://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien-evang-dioezese-AB/wien-innere-stadt-lutherische-stadtkirche/TRB42/?pg=13 [7. März 2024].
Meldeauskunft des Wiener Stadt- und Landesarchivs, GZ MA 8 – B-MER-386432-2024.
GenTeam. Die genealogische Datenbank, http://www.genteam.at [28. März 2024], Austritte in Wien aus der IKG 1915-1945 zu Gisela bzw. Richard Weiss.
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Entschädigungs- und Restitutionsangelegenheiten, Vermögensverkehrsstelle, Vermögensanmeldung Nr. 3693 vom 30. Mai 1938 (Richard Weiss).
Yad Vashem: Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer (https://yvng.yadvashem.org/ ) zu Richard und Gisela Weiss, ID 4950975 bzw. 4950621 [7. März 2024].
Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (http://www.doew.at ), Einträge zu Richard und Gisela Weiss [7. März 2024] sowie zu Elise Propper [18. Juni 2024].
Neue Freie Presse, Nr. 25896 M vom 14. Oktober 1936, S. 17 zum Ableben von Gustav Propper.
Dieter J. Hecht/Michaela Raggam-Blesch/Heidemarie Uhl (Hrsg.): Letzte Orte. Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42, Wien/Berlin 2019.
Traude Litzka: The Church’s Help for Persecuted Jews in Nazi Vienna, Wien 2018.
Riksarkivet (Stockholm), SUK, F 1 AC:21947.
The National Archives: Naturalisation Certificate Charles Anthony Wills, https://discovery.nationalarchives.gov.uk/details/r/C11822199 [28. März 2024].
Geni.com, Einträge zu Leopoldine und Felix Propper, http://www.geni.com/people/Leopoldine-Propper/381662819560013359 und http://www.geni.com/people/Felix-Propper/4616010?through=381662819560013359 [2. Mai 2024].
Evangelisches Museum Wien: Evangelische Persönlichkeiten: Felix Propper, https://museum.evang.at/persoenlichkeiten/felix-propper/ [2. Mai 2024].
Thomas Pammer: „Barnen som var räddning värda“? Die Schwedische Israelmission in Wien 1938-1941, ihre Kindertransporte und der literarische und wissenschaftliche Diskurs, Diplomarbeit Universität Wien 2012, https://phaidra.univie.ac.at/detail/o:1292422 [2. Mai 2024].
United States Holocaust Memorial Museum, RG-90.047.0040, https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn677753 [18. Juni 2024].
Ancestry.com: England & Wales, National Probate Calendar, 1858-1995, nach: Principal Probate Registry; London, England; Calendar of the Grants of Probate and Letters of Administration made in the Probate Registries of the High Court of Justice in England, http://www.ancestry.com/ [18. Juni 2024] zu Ernst Hans Propper.
Deceased online, http://www.deceasedonline.com/servlet/GSDOSearch?DetsView=Summary&src=ext&fileid=7400450 [18. Juni 2024] zu Ernst Hans Propper.