Dfkm. Dr. Wilhelm (Willy) Nagelberg
- Geb. am} 10.0.1914
- Geburtsort: Wien
- Kategorie: Doktorratsstudiengang
- Heimatberechtigung: Wien (Wien), Österreich
- Staatsbürgerschaft: Österreich
Wilhelm war Sohn von Helene (1891-1959, Mädchenname Licht) und Fritz (1883-1960) Nagelberg. Der Vater führte in der Czerningasse 4 (2. Wiener Gemeindebezirk) ein Unternehmen für Damenkonfektion, das 1932 in Konkurs gehen musste.
An der Hochschule für Welthandel war Wilhelm zwischen Wintersemester 1932/33 und Wintersemester 1936/37 inskribiert. Hier absolvierte er zunächst erfolgreich das Diplomstudium, die Diplomurkunde wurde im Januar 1936 ausgefertigt.
Während des Studiums trat Nagelberg dem Wiener Akademischen Corps Marchia bei (siehe Porträtfoto oben). Bei dieser Studentenverbindung, die im November 1888 als „akademischer Geselligkeitsverein“ gegründet worden war und deren Mitglieder sich im Café Colonnaden (Rathausplatz 4, 1. Wiener Gemeindebezirk) trafen, handelte es sich um eines der wenigen „paritätischen“ Corps, die Juden ebenso wie Nicht-Juden offenstanden (Doeberl u.a. 1931, S. 1066). Im damaligen politischen Spektrum galt die Marchia als deutsch-freisinnig, das heißt als nationalliberal eingestellt, und war eine waffenstudentische Korporation. In den Jahren 1935 und 1936 nahm Nagelberg, der den Couleurnamen „Wurm“ angenommen hatte, zwei Mal das Amt des Schriftwarts wahr (Wiener Akademisches Corps Marchia, 1988).
Die Promotion von Wilhelm Nagelberg fiel in den Zeitraum des 'Anschlusses' Österreichs: Das Erste Rigorosum legte er bereits im Juli 1937 ab, das Zweite Rigorosum hingegen erst im Juli 1938. Dabei gehörte Nagelberg zu den wenigen jüdischen Doktoranden, denen vom NS-Regime gestattet wurde, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich ihre Promotion abzuschließen; dies hatte im Laufe des Sommersemesters 1938 zu geschehen. So war Nagelberg einer der sieben jüdischen DoktorandInnen, die am 12. Juli 1938 an der 'Welthandel' promoviert wurden. Entsprechend einer Anordnung des österreichischen Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten, das damals unter der Aufsicht von Reichsstatthalter Arthur Seyss-Inquart stand, unterlag die Promotion von jüdischen Doktorandinnen und Doktoranden einer Reihe von Einschränkungen, die diesem akademischen Ereignis jede Würde nehmen sollten:
- die Promotion hatte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattzufinden;
- die Kandidatinnen und Kandidaten durften Verwandten oder Bekannten keine Einladungen zur Promotion zukommen lassen;
- die akademischen Funktionsträger wie Rektor und Promotor waren gehalten, nicht im Talar aufzutreten;
- und anstelle der üblichen mündlichen Sponsion hatten die jüdischen DoktorandInnen das Gelöbnis schriftlich abzulegen, indem sie ein vorgedrucktes Formular unterzeichneten.
- Ansprachen waren nicht zugelassen.
Einen Teil der Dissertation veröffentlichte Nagelberg 1938 im Eigenverlag unter dem Titel Über Veränderungen in der Baumwollwirtschaft der Erde seit 1900.
Bald nach der Promotion reiste Nagelberg nach Italien. Seine Wohnung am Czerninplatz 2, in der er seit Oktober 1933 mit seinen Eltern gewohnt hatte, gab er am 12. September 1938 auf. In Mailand traf er seine Eltern. Am 23. März 1940 setzte er von Genua aus mit der SS Vulcania in die USA über, wo er seinen Namen in William Nagel amerikanisierte. Die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt er am 30. März 1941 in Augusta (Georgia). Wie seine Tochter Arlene 2021 berichtete, war er zeit seines Lebens stolz, Amerikaner (geworden) zu sein; fast bis zu seinem Todestag hing die Flagge der Vereinigten Staaten an der Frontseite seines Wohnhauses.
Zunächst arbeitete er als Portier für die Ocean Management Corporation, ehe er im Oktober 1940 in die amerikanische Armee eintrat. Seine Ausbildung erhielt er in Camp Ritchie (Maryland), wo der US-Militärgeheimdienst Soldaten für Verhöre ausbildete. Der ehemalige „Welthandels“-Absolvent Nagelberg gehörte somit zu den so genannten „Ritchie Boys“, die im Zuge der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus hinter der Front deutsche und österreichische Kriegsgefangene verhörten.
Nach der Entlassung aus dem Militärdienst 1945 arbeitete William Nagel bis zu seiner Pensionierung im Pentagon und in der Europa-Abteilung des Office of Economic Affairs. Er ließ sich in Washington D.C. nieder. Hier lebte er mit seiner Frau Gertrude (geboren 12. März 1921, Tochter von Anna [4. Juli 1899 bis mutmaßlich 1944, Mädchenname Pollach] und Mendel [genannt Max] Juris [1885-1926]) und den Töchtern Arlene (später verheiratete Bekman) und Deborah (später verheiratete Graff). Wie William stammte auch Gertrude ursprünglich aus Wien, und auch sie war vor der Verfolgung von Juden und Jüdinnen durch das NS-Regime in die USA geflohen. Zunächst hatte Gertrude im Januar 1939 die Grenze zur Schweiz überquert, und nachdem ihr jüngerer Bruder Kurt (1924-1945?) und ihr Onkel Joschi sich ihr in St. Gallen angeschlossen hatten, war sie nach Großbritannien emigriert. Hier fand sie bei einer Familie in Blackpool eine Anstellung, ehe sie in die USA auswandern konnte. Nachdem sich William und Gertrude im Exil kennengelernt hatte, heiratete das Paar am 18. Januar 1942 in New York.
Während Williams Eltern den Zweiten Weltkrieg in Italien überlebt haben und 1953 in die USA auswandern konnten, scheiterten die Bemühungen von Gertrude, ihre Mutter Anna und ihre Großmutter Hermine Pollach (mutmaßlich Oktober 1872 bis mutmaßlich 1944, Mädchenname Kohn) während des Krieges in Sicherheit zu bringen. Die beiden Frauen wurden am 10. Oktober 1941 von der Herminengasse 10/20 (2. Wiener Gemeindebezirk) aus ins Ghetto von Łódź deportiert. Über Verwandte in der Schweiz vermochte Gertrude bis zum Frühjahr 1944 Kontakt zu den beiden Frauen aufrecht zu erhalten. Nach dem Krieg vermutete sie, dass ihre Mutter und Großmutter danach im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurden.
Williams Antrag beim "Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt im Ausland haben (Hilfsfonds)" wurde zwar im November 1956 positiv beschieden. Doch bis Oktober 1962 hat er von der Republik Österreich keine Zahlungen erhalten. Seine Beschwerde verhallte offenbar ungehört.
Nagelbergs letzter Wohnort war Silver Spring (Maryland). Er starb am 19. September 2001. Zwei Tage später wurde William Nagel auf dem Judean Memorial Gardens bei Olney (Maryland) beigesetzt, der 1975 als der jüdische Friedhof für die Metropolregion Washington eingerichtet worden war. Damit wurde er auf den Tag genau vier Monate nach der Beisetzung seiner Frau begraben, die am 18. Mai 2001 verstorben war.
Autor: Johannes Koll
Unterstützung bei der Recherche: Harald Seewann
Bilder
Quellenhinweise
Wirtschaftsuniversität Wien, Universitätsarchiv, Studierendenkarteikarte.
Wirtschaftsuniversität Wien, Bibliothekszentrum LC, Sign. 41012-B.
Doeberl, Michael/Otto Scheel/Wilhelm Schlink/Hans Sperl/Eduard Spranger/Hans Bitter/Paul Frank: Das akademische Deutschland, Bd. 2: Die deutschen Hochschulen und ihre akademischen Bürger, Berlin 1931.
Wiener Akademisches Corps: Marchia 1888–1988. Festschrift zur Feier des zweihundertsten Semesters, Wien 1988.
Meldeauskunft des Wiener Stadt- und Landesarchivs, GZ MA 8 – B-MEW-140563/2013.
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Finanzen, HF, Zl. 1263.
E-Mail von Arlene Nagel Bekman (Tochter) an PD Dr. Johannes Koll (WU Wien) vom 2. Juni 2021.
European Holocaust Research Infrastructure, Gertrude and William Nagel family papers, irn575723, https://portal.ehri-project.eu/units/us-005578-irn575723 [2. Juni 2021].
Robert Lackner: Camp Ritchie und seine Österreicher. Deutschsprachige Verhörsoldaten der US-Armee im Zweiten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2020.
Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (http://www.doew.at ) zu Anna Juris [2. Juni 2021].
Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer (https://yvng.yadvashem.org/ ) zu Anna Juris und Hermine Pollach [2. Juni 2021].
http://www.ancestry.com zu William Nagel [2. Juni 2021].
Ancient Faces, http://www.ancientfaces.com/person/william-nagel/13455968 [23. September 2013].